Claudius Gros - Mageia, das Buch der Farben. Der Fantasy Roman der Gefühle.

Erstes Buch




Auf der Schwelle

Im Kreis ihrer Familie verlief alles so, wie Desini das erwartet hatte. Von ihrer Mutter erhielt sie einen nützlichen Korb, für Allerlei und insbesondere für ihre Nähsachen, während Heliph und Esmit sie je mit einem mehr oder minder brummigen ‘Glückwunsch’ bedachten. Mehr wäre aber auch an einem Tag wie diesem nicht von ihren Brüdern zu erwarten gewesen. Desinis kleine Schwester würde sich hingegen aufgeregt auf die Zehenspitzen stellen, strecken und ihr zur Volljährigkeit eine selbstgeflochtene Kette aus Gänseblümchen um den Hals hängen. Dazu gesellte sich das Recht der Gastfreundschaft, das Desini zum Abschluss feierlich von ihrem Vater übertragen wurde. Blieben noch die Vorbereitungen für die Feier am Abend. Die mussten sich aber gedulden, da Desini zunächst den Wanderlehrer aufsuchen wollte.


Die andere Sache mit der Volljährigkeit war, dass man nun von ihr erwartete, sich ernsthafte Gedanken über ihre Anwärter zu machen. Zum Beispiel über Barn, ganz oben auf der Liste. Ziemlich kräftig, vom Umfang her, dafür aber der Sohn des Wirts und eine gute Partie. Der zweite auf der Liste, Sinster, kam hingegen nicht wirklich infrage. Ohne Geld und zweifelsohne zu häufig betrunken. Konnte sich der Mann ihrer Träume eigentlich nicht etwas mehr anstrengen und sich endlich …

–… in der Wirklichkeit bemerkbar machen?

Desini seufzte. An der Kreuzung bemerkte sie eine hagere Gestalt, die sich rasch nach Norden, Richtung Frostwasser entfernte.


»Der soll machen, dass er wegkommt!«

Desini fuhr herum. Von der anderen Seite näherte sich Tabber zusammen mit Vailo und einem Karren mit Werkzeugen. Die hatte sie vorher nicht gesehen.

»Haben ihm klar gemacht, dass wir Gesindel wie ihn hier nicht brauchen.«

»Wie meinst du das?«

Sie hob die Hand zur Begrüßung. Sinsters Brüder standen vermutlich auch auf ihrer Liste. Aber wenn, dann so weit unten, dass Desini sich noch nicht bis zu ihnen hatte durcharbeiten können.

»Der hat behauptet, Prediger zu sein und einem helfen zu können, wieder gesund zu werden. Hat gefragt, ob jemand in der letzten Zeit einen schweren Unfall hatte.«

Das war in der Tat seltsam. Jetzt war es Vailo, der zu einem Lächeln ansetzte.

»Glückwunsch übrigens. Sind wir heute Abend denn auch hinter die Mauer eingeladen?«


Das musste ja kommen. Als hätte niemand Besseres zu tun, als sie damit aufzuziehen, dass der Hof ihres Vaters von einer dicken Mauer umzogen wurde. Dabei wusste keiner, wozu die gut sein sollte.

»Alle sind eingeladen«, Desini verzog eine Grimasse. »Das wisst ihr doch.«

Am Abend der Volljährigkeit gab es stets ein offenes Haus, so war es üblich. Die Leute würden nach Lust und Laune vorbeikommen, allerlei zum Essen mitbringen und sich den Abend über reichlich aus dem obligatorischen Krug mit heißem Grog bedienen.


Desini überlegte noch kurz, ob sie nicht den einen oder anderen Anwärter ganz von der Liste streichen sollte, verabschiedete sich dann aber und setzte ihren Weg fort. Sie wollte zur Schenke, die schon in ihrer Kindheit tagsüber als Schulraum fungiert hatte. Desini erinnerte sich noch gut, wie der Wanderlehrer ihr einst Lesen und Schreiben beigebracht und dabei verträumt Geschichten über die Magier vergangener Zeiten erzählt hatte, über die Wunder der Welt und über das Alumnat von Kidul.


»Stellt euch einen Raum vor«, so pflegten die Geschichten des Lehrers ihren Lauf zu nehmen, »so lang wie die längste Scheune und gefüllt voll mit Büchern, Truhen und wertvollen Pergamenten. Stellt euch vor, auf einem Kissen zu sitzen und euch für Stunden in alte Berichte zu vertiefen. Wenn ihr euch das vorstellen könnt, dann befindet ihr euch in der Bibliothek des Alumnats.«

Woraufhin er immer so getan hatte, als würde er aus einem der hochehrwürdigen Pergamente vorlesen. Alles das schwirrte Desini durch den Kopf, als sie beim Wirtshaus ankam, eintrat und ernüchtert feststellen musste, dass die Schenke leer war. Bis auf einen überaus gut beleibten Jungen hinter der Theke.


»Hallo Barn. Ist denn unser Lehrer«, sie kam lieber gleich zur Sache, »nicht mehr da? Ich wollte ihn eigentlich einladen.«

»Nein, einer seiner Lanzenreiterkumpel ist gestern durchs Dorf. Er ist mit ihm fort.«

Eine ganze Menge Backe färbte sich jetzt rosa ein.

»Ach ja, die besten Wünsche!«

»Danke. Was wollte der Sturmreiter denn?«

»Antworten auf seine Fragen, so sind die halt. Sprach von den Kräften der Erde.«

»Und damit meinte er – was?«

»Ob es Abbrüche gegeben hat«, es dauerte, »entlang des Anstiegs zur Tafelebene. Unten im Süden.«

»Und der Lehrer ist dann mit ihm?«

»Auf und davon.«


Einfache Erdrutsche. Warum, bei den Kristallen, sollten die für das Alumnat von Interesse sein? Desini verfiel ins Grübeln. Währenddessen suchte Barn etwas unter dem Tresen.

»Hier«, er reichte ihr einen Brief, »den hat er für dich dagelassen.«

»Für mich? Von unserem Lehrer?«

»Sag ich doch.«

Überrascht ließ sie den Umschlag in ihren Korb gleiten. Einen Brief hatte Desini noch nie erhalten. Erst einmal war es aber höchste Zeit, sich höflich zu verabschieden. Nicht auszudenken, wie Barn ihren Besuch andernfalls aufnehmen konnte.



Desini folgte vorerst ihrem Bauch. Sie würde das Schreiben ihres ehemaligen Lehrers einen Tag ruhen lassen und es dann mit Muße lesen. Zunächst konzentrierte sie sich darauf, den Abend glatt über die Runde zu bekommen, ihre Liste dabei einigermaßen in Ordnung zu behalten und gleichzeitig die ständig wechselnden Gäste zu bewirten. Desini war gut beschäftigt, bis schließlich der Zeitpunkt kam, an dem auch die letzte Pastete verspeist und der letzte Humpen Grog geleert worden war. Sie hatte gerade die verbliebenen Gäste bis zum Tor begleitet, als sich ein allerletzter Nachzügler aus dem Schatten der Scheune löste.


»Alle sind fort, Sinster. Zeit, nach Hause zu gehen.«

Desini wedelte in Richtung des Hoftors. Sinster kam ihr seinerseits mit einem reichlich verwirrten Eindruck entgegen.

»Alle? Du bist aber noch da!«

»Ich wohne ja auch hier. Wäre es aber nicht eine gute Idee, den Mond auszunutzen und sich auf den Weg zu machen? Zu deiner Hütte sind es noch einige Schritte.«

So wie Sinster wanke und dabei einen Geruch verbreitet, in dem sich schlecht verdautes Hammelfleisch innig mit eilig hinuntergespültem Grog vermischte, waren es wohl einige Schritte zuviel. Unwillkürlich wich sie zurück.

»Alle sind fort?«, seine Augen wanderten schleppend über den Hof.

Nicht auch das noch!

Sinster hatte sie ohne Vorwarnung an sich gezogen.

»Vielleicht wäre es besser«, Desini entwand sich, »wenn du deinen Rausch fürs Erste im Schober ausschläfst.«

Es würde sicher nicht das letzte Mal sein, dass Sinster vergaß, beim Trinken mitzuzählen. Desini deutete auf die Scheune.

»Willst wohl nicht«, er griff fester nach ihr.

»Bin dir wohl nicht gut genug?«


Damit hatte er ins Schwarze getroffen. Desini überlegte kurz, ob sie ihre Eltern rufen sollte.

Am Tag der Volljährigkeit?

Nein, sie würde sich nicht hinter dem Rockzipfel ihrer Mutter verstecken!

»Jetzt ist es aber genug – dort ist die Scheune!«

Desini schob Sinster kräftig von sich weg. Sie machte einen entschiedenen Schritt rückwärts, stolperte über etwas Längliches und fiel über. Vermutlich ein Holzscheit, wie Desini noch im Fallen bewusst wurde, den Esmit beim Hacken übersehen hatte. Ihr Gedanke berücksichtigte allerdings nicht die Pflugschar ihres Vaters, die sich in diesem Augenblick schmerzhaft tief von hinten in den Oberschenkel bohrte. Desinis gellender Schrei rief ihre Eltern auf den Plan.



Manch einer befürchtete schon das Schlimmste, als sich die Wunde am folgenden Tag übel entzündete, gelblicher Eiter austrat und Desini sich mit hohem Fieber ins Bett legen musste. Zu Recht. Denn schon am Abend des vierten Tages war es soweit, dass der Tod Desini besuchte, sie bei der Hand nahm und zur Schwelle führte. Hier erlaubte er der Kranken ein letztes Mal, von oben herab auf sich selbst zurückzublicken.


Wie krumm ihr eigener Körper auf der zerknüllten Schlafstätte lag! Kerzen brannten auf dem Tischchen neben ihrem Bett. Woher aber jene eigentümlichen Farben kommen mochten, die ihren Leib leicht pulsierend umflossen?

Bin ich etwa–, sie war sich da nicht sicher, –schon in der Welt der Ahnen?

Traurig gedachte sie ihrer Familie. Desini wollte dem Tod schon durch die Pforte hindurch folgen, als sie ihre kleine Schwester bemerkte. Das tapfere Gesichtchen, mit dem Nola auf der Bettkante saß und ihr die Hand hielt! Komisch nur, dass auch sie von einer schimmernden Aura aus Farben umgeben wurde. Ein helles Gelb bei ihr. Sollte ihr Schwesterchen etwa auch schon bei den Ahnen sein? Aber wie, wenn Nola so ein lebendiges kleines Mädchen war!


Ein Mysterium lag vor ihr ausgebreitet. Ausgerechnet jetzt! Der Sog verstärkte sich, auf der einen Seite, während sich auf der anderen Seite etwas in ihr sträubte. Dem Geheimnis der Farben wollte sie nachgehen! Das Bedürfnis wurde stärker, bis Desini am Ende in einen tiefen Schlaf fiel. Sie hatte nicht bemerkt, wie ihre eigene Aura nach und nach verblasst war.