Claudius Gros - Mageia, das Buch der Farben. Der Fantasy Roman der Gefühle.

Prolog




Die Königin

Ein Wildwechsel hatte sie durch den Bergwald hindurch bis über die Waldgrenze hinauf in ein karges Hochtal geführt. Jetzt wurde sie nur noch von einigen windschiefen Föhren begleitet, die sich links wie rechts an den beiderseits zunächst sanft, dann aber immer steiler ansteigenden Hängen krümmten. Weiter talaufwärts kreiste ein Adler über ihrem kalten Ziel. Wartete er?


Die Königin schaute auf, umschloss den Stein in ihrer Hand und widmete sich dann erneut dem Pfad vor ihr. Nein. Sein scharfes Auge würde sich für das Getümmel der Murmeltiere, nicht aber für den Schicksalsfaden interessieren, der sie hierher geführt hatte. Wie auch, wenn sie nur eine alte Frau war und schon lange nicht mehr die Kraft verspürte, die der Kristall auf ihrer Stirn ausstrahlte.


Die Zeit, die vergangen war, seit ihr Draiochta in jungen Jahren den Kopf mit irrsinnigen Ideen, Legenden und mit vagen Vermutungen gefüllt hatte! Alles nur, um sie anschließend alleine zu lassen, sich selbst aber der Verantwortung zu entziehen und in die Stürme zu segeln. War es richtig gewesen, den Plan des verrückten Magiers umzusetzen, die Schatzkammer im Geheimen zu plündern und darüber hinaus so vieles mehr zu tun, worüber besser nicht gesprochen wurde?

Manchmal ist Hoffnung–, das waren die Worte ihres Lehrmeisters gewesen, –stärker als Gewissheit.

Cyllell hatte es auf den Punkt gebracht. Ohne seinen Zuspruch wäre vielleicht nie der Tag gekommen, an dem sich das Salz der Tränen in ihrer Hand gesammelt hatte.


Jetzt türmte sich das ewige Eis so nah Schicht um Schicht vor ihr auf, dass die Kälte mit den Fingern zu spüren war. Nach einem weiteren Schritt blieb die Königin mit gehobenem Kopf stehen. Gedämpfter Lärm erreichte ihre Sinne. Hatten ihre Gardisten den Kampf aufgenommen, unten auf dem Talboden, und sich den Verfolgern gestellt? Den Häschern ihres eigenen Sohns! Erneut senkte sie die Augen. Ein klares Wasser schlängelte sich durch das Geröllfeld hindurch bis zu ihren Füßen, von einzelnen Grasbüscheln nur umrahmt, dürr und verblichen, um sich nach einigen weiteren Windungen talabwärts zwischen den Felsen zu verlieren. Die Entscheidung war nicht weiter hinauszuzögern.


Ein letztes Mal betrachtete sie das Netz aus bläulichen Adern, das den dunkelgrünen Stein in ihrer Hand durchzog. Selbst bei Tageslicht leuchtete es noch eigenartig. Es war ein Fehler gewesen, dem Drängen nachzugeben und zuzulassen, dass seine Kräfte untersucht wurden. Wie hätte sie aber auch ahnen können, dass dieser Stein einen so unersättlichen Hunger nach Macht in ihrem Sohn wecken würde? Endlich senkte sich die Hand der Königin. Der Stein entglitt, platschte in den Gletscherbach und kullerte noch eine Zeit lang zwischen den Kieseln umher. Als würde auch er zögern, das Schicksal entscheiden zu lassen.


Was in ihrer Macht stand, das hatte sie getan. Frische Luft strömte in die Lungen der Königin, als sie sich dem Hang zuwandte und bedächtig einen Fuß nach dem anderen auf den rauen Schotter setzte. Lange Jahre waren vergangen, seit sie es vollbracht, alles unter dem blauen Schleier verborgen und Cyllell sich entschieden hatte, nicht nach Thinis zurückzukehren. Ein bescheidenes Gut habe er in den Landen erworben, so sagte man, ein Bauernmädchen geheiratet und sich zur Ruhe gesetzt. Eine weise Entscheidung vielleicht. Die Königin wünschte ihrem Lehrmeister in jedem Fall den Frieden, den sie für sich selbst nicht hatte finden können. Es gab nichts Wichtigeres, als beim Gang zu den Ahnen der Fürsorge der Nächsten gewiss zu sein.


Der Nachmittag neigte sich seinem Ende zu, als die Königin das zerklüftete Feld des Gletschers erreichte, einen Moment stehen blieb und Atem schöpfte. Es war gleich, wo man sie finden würde, wo die Häscher …

–… meinen Körper finden werden!

Aber nicht den Stein. Sie war jetzt vollkommen allein und es würde niemanden geben, außer ihrem goldenen Reif, der sie auf ihrem letzten Pfad begleitete. Weder die Ihrigen noch den Adler, der schon lange zuvor bis zu den Gipfeln hinaufgestiegen und im Dunst der Ferne entschwunden war.


War Gestern, ist Heute, wird Morgen

Im Nebel der Zeiten, das Schicksal verborgen

Die Ruhe, die Hoffnung, die Sorgen


Die alte Frau summte eine Strophe des Liedes, das sie selbst verfasst und populär gemacht hatte. Zögerlich fuhr sie mit den faltigen Fingern durch die silbergrauen Haare. Es waren nur wenige Schritte, bis die Königin auf dem glitzernden Weiß einbrach, in eine Gletscherspalte stürzte und ihr letzter Gedanke verstarb.


Einen unverhofften Besuch erhielt sie von den Strahlen der Abendsonne, die einen Weg zwischen den Gipfeln hindurch zu ihrer Spalte fanden. Einen Augenblick lang leuchtete das Grab der Königin noch einmal rubinrot auf. Viel zu früh für die Jahreszeit zog in der Nacht ein Schneesturm auf, der das Hochtal in ein dichtes Treiben hüllte und der drei Tage später eine dicke weiße Decke zurücklassen würde. Tief genug, bis zum Winter zu halten und im nächsten Jahr selbst den Sommer zu überdauern. Überall in den Bergen wurde es jetzt kühler, die Winter länger und die Sommer kürzer. Über viele Jahre hinweg drang das mächtige Eis bis in die Täler vor und es sollten Jahrhunderte vergehen, bis die Sommer abermals länger und die Eiszungen kürzer wurden. Jahrhunderte, bis der Gletscher die letzte Ruhestätte der Königin erneut freigab.